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Frühdiagnostik – Welche Autismus-Tests gibt es für Kleinkinder?

Verfasst: Sonntag 1. Juni 2025, 21:15
von Administrator
Hallo zusammen,

nachdem wir ausführlich über Ergotherapie gesprochen haben, kam mehrfach die Frage auf, wie Autismus eigentlich bei sehr jungen Kindern erkannt wird. Gerade Eltern von Zwei- bis Vierjährigen sind oft verunsichert: Ab wann ist „Sprachverzögerung“ noch normal? Wann sollte man professionelle Hilfe suchen? Und welche Testverfahren sind überhaupt seriös?

Der folgende Beitrag fasst den aktuellen Stand der Frühdiagnostik zusammen, erklärt die wichtigsten Screening- und Diagnoseinstrumente und skizziert, wie der Ablauf in Deutschland normalerweise aussieht.

1. Warum Früherkennung so wichtig ist

Je früher Autismus erkannt wird, desto eher können Fördermaßnahmen starten. Studien zeigen, dass Frühinterventionen wie das Early Start Denver Model oder Eltern-Coaching nach PACT die Sprach- und Sozialentwicklung messbar verbessern. Die Leitlinie der American Academy of Pediatrics empfiehlt deshalb ein allgemeines Screening mit 18 und 24 Monaten (AAP, 2020). Auch die deutsche S3-Leitlinie Autismus betont, dass Kinderärzte bei jedem U-Termin aufmerksam auf Warnzeichen achten sollen (AWMF, 2020).

Wird Autismus erst im Schulalter festgestellt, mussten Kind und Familie häufig viele Jahre ohne passgenaue Unterstützung zurechtkommen – das ist vermeidbar.

2. Unterschied zwischen Screening und Diagnostik

Wichtig ist, die Begriffe nicht in einen Topf zu werfen:
  • Screening = grobes Vorsortieren, um Risikokinder zu identifizieren.
  • Diagnostik = ausführliches Verfahren, meist in einer sozial- oder kinderpsychiatrischen Ambulanz. Erst hier wird die ICD-10- oder künftig ICD-11-Diagnose gestellt.
Ein unauffälliges Screening schließt Autismus nicht mit 100-prozentiger Sicherheit aus, ein auffälliges Ergebnis bedeutet umgekehrt nicht automatisch Autismus. Es ist also immer nur der erste Schritt.

3. Standardisierte Screenings ab 16 Monaten

3.1 M-CHAT-R/F
Das am weitesten verbreitete Instrument heißt „Modified Checklist for Autism in Toddlers, Revised with Follow-Up“ (M-CHAT-R/F Originalseite). Es umfasst 20 Ja/Nein-Fragen, die Eltern in fünf Minuten beantworten. Beispiele:
  • Schaut Ihr Kind auf Gegenstände, wenn Sie darauf zeigen?
  • Reagiert es darauf, wenn sein Name gerufen wird?
  • Interessiert es sich für andere Kinder?
Erzielt das Kind 3–7 Risikopunkte, folgt ein kurzes Telefon-Nachinterview (F-Teil). In einer großen US-Studie lag die Sensitivität bei 85 %, die Spezifität bei 99 % (Robins et al., 2014).

3.2 SACS-R / SACS-PR
Die „Social Attention and Communication Surveillance“ Checkliste stammt aus Australien. Sie wird nicht von Eltern, sondern vom Kinderarzt ausgefüllt und bewertet feinere soziale Signale (z. B. Geteilte Aufmerksamkeit). Erste Daten zeigen eine Sensitivität von 83 % und eine Spezifität von 99 % (Barbaro et al., 2022). In Deutschland ist SACS noch wenig verbreitet, einige Modellprojekte laufen.

3.3 Elternfragebogen ESAT
Der „Early Screening of Autistic Traits Questionnaire“ umfasst 14 Items, empfohlen ab 14 Monaten. Er ist in mehreren europäischen Sprachen validiert und besonders kurz, hat jedoch eine geringere Treffsicherheit als M-CHAT (Sensitivität ca. 60 %).

4. Goldstandard-Diagnostik ab ca. 24 Monaten

Wenn ein Screening auffällig ausfällt oder Eltern eindeutige Warnzeichen sehen, folgt eine differenzierte Abklärung. Die meisten deutschen Zentren nutzen eine Kombi aus Beobachtungs- und Elterninterview:

4.1 ADOS-2, Modul „Toddler“
Die „Autism Diagnostic Observation Schedule, Second Edition“ gilt weltweit als Beobachtungs-Goldstandard. Für Kleinkinder von 12–30 Monaten gibt es das eigene Kleinkind-Modul („Toddler Module“). Hier beobachtet der Diagnostiker 20–30 Minuten lang, wie das Kind sich in Spielsituationen verhält – z. B. Kontaktaufnahme, Blickwechsel, Imitation, symbolisches Spiel. Die Punkte ergeben eine Summe, die über bzw. unter dem Cut-off liegt. Details finden sich auf der Verlagsseite (WPS, 2023).

4.2 ADI-R
Das „Autism Diagnostic Interview – Revised“ ist ein dreistündiges Elterninterview, das Entwicklungsgeschichte, Sprache, Spielverhalten und sensorische Auffälligkeiten systematisch abfragt. In Kombination mit der ADOS-2 erhöht sich die Trefferquote deutlich (Lord et al., 2012).

4.3 Entwicklungs- und Intelligenzdiagnostik
Da Entwicklungsrückstände auch andere Ursachen haben können (Hörstörung, genetische Syndrome), führen Zentren zusätzlich Tests wie den Bayley-III, die SON-R oder den WPPSI-IV durch. Blut- bzw. Gentests dienen bei Bedarf dazu, Differentialdiagnosen auszuschließen (z. B. Fragiles-X).

5. Wer darf diagnostizieren?
  • Sozial- oder kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanzen der Universitätskliniken
  • Kinder- und Jugendpsychiater in eigener Praxis
  • Manche Frühförderstellen (in Kooperation mit Ärzten)
  • SPZ (Sozialpädiatrische Zentren)
Ein reiner Psychologe ohne ärztliche Zusatzqualifikation darf in Deutschland keine ICD-Diagnose an die Krankenkasse melden, wohl aber die Tests durchführen und einen Befund schreiben, den der Kinderarzt anschließend übernimmt.

6. Wie läuft das praktisch ab?
  • Überweisung: Der Kinderarzt stellt eine Überweisung an das SPZ oder die Klinik aus.
  • Anmeldeformular: Eltern füllen Fragebögen zu Entwicklung, Verhalten und Familienanamnese aus.
  • Erstgespräch: 60 Minuten, oft ohne Kind, um die Vorgeschichte zu erfassen.
  • Testtage: 1–2 Termine à 2 Stunden für ADOS-2, Entwicklungsdiagnostik und ggf. Hörtest.
  • Befundbesprechung: Erklärung der Ergebnisse, Empfehlungen für Therapie, Kita oder Frühförderung.
  • Bericht: Schriftlicher Befund (10–15 Seiten) geht an Eltern + Kinderarzt, ist Basis für Verordnungen.
Die Wartezeiten variieren regional stark – von vier Wochen bis zu neun Monaten. Wer schneller Klarheit möchte, kann eine private Praxis aufsuchen; Kosten liegen bei 800 – 1.500 €.

7. Worauf Eltern achten sollten

a) Früh beobachten
Schon kleine Hinweise wie fehlendes Zeigegesten mit 18 Monaten, ausbleibendes Imitationsspiel oder kaum Reaktion auf den eigenen Namen sind Warnsignale. Eine praktische Checkliste stellt das CDC-Infoblatt bereit.

b) Nicht vertrösten lassen
Sätze wie „Das verwächst sich“ oder „Jungs sprechen später“ können wertvolle Zeit kosten. Lieber ein Screening zu viel als zu wenig.

c) M-CHAT online nutzen
Eltern dürfen den Fragebogen selbst ausfüllen. Liegt das Ergebnis im Risikobereich, druckt man es aus und nimmt es mit zum Kinderarzt. So entsteht Faktenbasis.

d) Doppelbelastung vermeiden
Parallel Termine bei Logopädie, Ergotherapie, Frühförderung und SPZ anzusetzen, überfordert viele Familien. Besser Schritt für Schritt – die Priorität liegt meist auf Kommunikation.

8. Grenzen der Verfahren

Kein Test ist perfekt. Gerade hochfunktionelle Kleinkinder mit guten Augen-Blick-Kontakten können im Screening unauffällig sein. Ebenso können Frühchen oder Kinder mit Hörstörung falsch-positiv abschneiden. Deshalb:
  • Screening immer in Zusammenschau mit Entwicklung und Familienbericht interpretieren.
  • Diagnose nie allein auf Fragebogen stützen.
  • Bei Zweifel nach sechs Monaten erneut testen.
9. Häufige Fragen kurz beantwortet

Ist 18 Monate nicht zu früh?
Nein. Studien belegen, dass erfahrene Diagnostiker schon ab 12 Monaten stabile Aussagen treffen können (Ozonoff et al., 2015).

Verläuft der Test schmerzfrei?
Ja. ADOS-2 besteht aus Spielsituationen. Einzig die Entwicklungstests können etwas Frust auslösen, wenn Aufgaben schwer sind.

Übernimmt die Krankenkasse die Kosten?
Ja, sobald die Überweisung vorliegt. Lediglich private Zusatztests (Gentest ohne Indikation) muss man eventuell selbst zahlen.

Was, wenn die Diagnose negativ ausfällt, Probleme aber bleiben?
Dann wird oft eine unspezifische Entwicklungsstörung kodiert (F83). Hilfen wie Frühförderung oder Sprachtherapie sind trotzdem möglich.

10. Fazit

Frühe Tests für Autismus sind kein Mode-Trend, sondern ein wichtiges Werkzeug, um Kindern zeitnah Unterstützung zu bieten und Eltern Gewissheit zu verschaffen. Das M-CHAT-R/F hat sich als einfaches Screening bewährt, während ADOS-2 und ADI-R den Goldstandard der klinischen Diagnose bilden. Entscheidender als das einzelne Verfahren ist jedoch ein ganzheitlicher Blick auf Sprache, Sozialverhalten, Motorik und Familienanamnese. Wer aktiv beobachtet und bei Verdacht nicht zögert, legt den Grundstein für eine passgenaue Förderung – und erspart sich später viel Stress.

Ich hoffe, der Beitrag gibt einen klaren Überblick. Welche Erfahrungen habt ihr mit Screenings oder Diagnosen bei euren Kleinen gemacht? Schreibt gern unten eure Fragen oder Tipps!

Viele Grüße
Euer Admin-Team

Literatur und Links