in diesem Beitrag möchte ich das Thema Impulskontrollstörung bei Autisten beleuchten. Dabei werde ich darauf eingehen, was eine Impulskontrollstörung ist, wie sie sich im Rahmen einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) äußern kann, welche möglichen Ursachen und Mechanismen dahinterstecken und welche Strategien im Umgang hilfreich sein können. Ich hoffe, dieser Beitrag dient als informativer Einstieg in das Thema und bietet euch Anregungen für Diskussionen, Austausch von Erfahrungen und den Weg zu weiterführenden Informationen. Bitte beachtet, dass dieser Beitrag keine medizinische Beratung ersetzt. Bei konkreten gesundheitlichen Fragen solltet ihr euch immer an Fachleute wenden.
1. Begriffsklärung: Was ist eine Impulskontrollstörung?
Eine Impulskontrollstörung beschreibt ein Muster, bei dem es einer Person schwerfällt, Impulse, Triebe oder Versuchungen zu widerstehen, die potenziell schädlich oder unangemessen sind. Das können beispielsweise Wutausbrüche, aggressive Handlungen oder andere unkontrollierte Verhaltensweisen sein. Die Schwierigkeit besteht darin, dass diese Impulse oft plötzlich und stark auftreten und der Person im Moment kaum Raum für bewusste Selbstregulation lassen.
Nach dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5) werden Impulskontrollstörungen als eigenständige Störungsgruppe betrachtet, wobei sich diese in verschiedenen Erscheinungsformen zeigen können (z.B. intermittierende Explosivität, pathologisches Spielen oder Kleptomanie). Allerdings ist der Begriff Impulskontrollstörung recht breit gefasst und kann in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet werden. Im Zusammenhang mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) wird er häufig gebraucht, wenn es um Schwierigkeiten geht, das eigene Verhalten zu steuern und auf plötzliche Reize oder Stressfaktoren angemessen zu reagieren.
2. Impulskontrollstörung und Autismus: Ein Überblick
Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zeigen eine Vielzahl an unterschiedlichen Symptomen und Ausprägungen. Dabei sind Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion, Kommunikation und im Verhalten (z.B. eingeschränkte Interessen, repetitive Verhaltensmuster) zentral. Darüber hinaus berichten viele Autist*innen von Problemen mit Reizverarbeitung, sensorischer Überempfindlichkeit oder Schwierigkeiten im Bereich der Emotionsregulation.
Gerade die Emotionsregulation und Impulskontrolle spielen bei Autist*innen eine wichtige Rolle, wenn es um die Bewältigung des Alltags geht. Häufig können Reizüberflutung, Stress, Missverständnisse in der Kommunikation oder unerwartete Veränderungen zu einer inneren Anspannung führen, die sich dann in plötzlichen, oft heftigen Ausbrüchen äußert. Hier kann es zu einer Überschneidung mit dem kommen, was als Impulskontrollstörung bezeichnet wird.
Allerdings ist es wichtig zu verstehen, dass diese Impulsdurchbrüche bei Autist*innen häufig eng verknüpft sind mit sensorischer oder emotionaler Überlastung (auch Overload oder Meltdown genannt) und nicht ausschließlich als „klassische“ Impulskontrollstörung im Sinne einer eigenständigen psychiatrischen Diagnose betrachtet werden sollten. Dennoch kann der Begriff hilfreich sein, um die Schwierigkeiten bei der Verhaltenssteuerung besser zu verstehen und geeignete Unterstützungsmöglichkeiten zu finden.
3. Mögliche Ursachen und Mechanismen
Warum leiden manche Autist*innen stärker unter Impulskontrollproblemen als andere? Hierfür gibt es verschiedene Erklärungsansätze:
- Neurobiologische Grundlagen: Autismus wird häufig mit einer veränderten neuronalen Konnektivität und anderen Besonderheiten im Gehirn in Verbindung gebracht. Bereiche, die für die Emotionsregulation und Verhaltenssteuerung verantwortlich sind, können davon betroffen sein (S3-Leitlinie Autismus-Spektrum-Störungen). Dies kann sich in Schwierigkeiten bei der Impulskontrolle äußern.
- Sensorische Reizüberflutung: Viele Autist*innen sind besonders empfindlich gegenüber Geräuschen, Licht, Berührungen oder Gerüchen. Kommt es zu einer Reizüberlastung, steigt das Stresslevel. Die Fähigkeit, Impulse zu regulieren, kann in solchen Momenten deutlich herabgesetzt sein.
- Stress und Angst: Autist*innen können durch soziale Anforderungen, Kommunikationsschwierigkeiten oder unerwartete Veränderungen rasch in eine Stress- oder Angstsituation geraten. Wenn das Stressniveau sehr hoch ist, können unkontrollierte Handlungen oder Ausbrüche auftreten.
- Mangelnde soziale Vorbilder und Lernchancen: Bei einigen Betroffenen fehlen eventuell frühe Lernmöglichkeiten, wie man konstruktiv mit Frustration umgeht. Soziale Lernprozesse können bei Autist*innen teilweise anders verlaufen, wodurch Strategien zur Impulskontrolle möglicherweise nicht ausreichend erworben werden.
- Komorbide Störungen: Häufig tritt Autismus gemeinsam mit anderen psychischen Störungen auf, wie z.B. ADHS oder Angststörungen. Eine zusätzliche ADHS-Diagnose kann die Impulsivität und somit Impulskontrollprobleme verstärken (DGPPN).
Impulskontrollstörungen bei Autist*innen können sich auf vielfältige Weise zeigen. Hier einige Beispiele:
- Wutausbrüche oder Aggressionen: In Situationen, in denen Überforderung oder Missverständnisse vorliegen, kann es zu plötzlichen Wutausbrüchen kommen. Diese können sich gegen Gegenstände oder auch gegen andere Menschen richten, sind jedoch oft eher Ausdruck der inneren Not.
- Selbstverletzendes Verhalten: Manche Autist*innen neigen bei hoher Anspannung zu autoaggressivem Verhalten, etwa Schlagen gegen den eigenen Kopf oder Kratzen an der Haut.
- Rückzug und Verweigerung: Weniger offensichtlich, aber nicht minder bedeutsam, kann ein kompletter Rückzug (Shutdown) sein, bei dem Betroffene sich jeglichem Kontakt verweigern, weil sie den Impuls haben, alles abzubrechen.
- Sprunghaftigkeit und Ungeduld: In weniger belastenden Situationen kann sich eine eingeschränkte Impulskontrolle in sprunghaftem Verhalten oder Ungeduld zeigen, beispielsweise wenn Routinen unterbrochen werden oder die Person auf etwas warten muss.
5. Diagnostische Einordnung
Wie bereits erwähnt, ist der Begriff Impulskontrollstörung eher ein Sammelbegriff. In der klinischen Praxis wird bei Autist*innen in der Regel keine separate „Impulskontrollstörung“ diagnostiziert, sofern die Impulsdurchbrüche hauptsächlich als Folge der Autismus-Symptomatik und ihrer Begleitumstände auftreten. Dennoch kann es Fälle geben, in denen eine zusätzliche Diagnose (z.B. Intermittierende Explosible Störung) gestellt wird, wenn die Kriterien erfüllt sind.
Wichtig ist die sorgfältige Abklärung, ob die impulsiven Verhaltensweisen vor allem durch Überlastungssituationen im Rahmen von ASS ausgelöst werden oder ob es sich um eine eigenständige Störung handelt. Dafür können Fachärzt*innen für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Psychotherapeut*innen mit Spezialisierung auf Autismus hinzugezogen werden. Die Bundesverband Autismus Deutschland e.V. bietet zudem Informationen und Adressen spezialisierter Einrichtungen.
6. Umgang mit Impulskontrollstörungen bei Autist*innen
Impulskontrollstörungen bei Autist*innen erfordern ein ganzheitliches Verständnis und angepasste Strategien. Hier einige Ansätze, die sich in Praxis und Forschung bewährt haben:
- Früherkennung von Stressoren: Eine zentrale Rolle spielt das rechtzeitige Erkennen von Überlastung. Eltern, Angehörige oder Fachkräfte sollten darauf achten, welche Reize oder Situationen zu erhöhter Anspannung führen. Durch das frühzeitige Wahrnehmen von Anzeichen (z.B. Unruhe, verändertes Stim-Verhalten, veränderte Mimik) können Eskalationen verhindert werden.
- Struktur und Vorhersehbarkeit: Viele Autist*innen profitieren von klaren Routinen und Tagesplänen. Wenn die Abläufe transparent und möglichst frei von Überraschungen sind, sinkt das Stresslevel und damit auch das Risiko für impulsive Durchbrüche.
- Entspannungstechniken und Selbstregulation: Je nach kognitivem Niveau und persönlichen Vorlieben können Autist*innen Techniken erlernen, um sich selbst zu beruhigen. Das können Atemübungen, bestimmte körperliche Bewegungen (z.B. Schaukeln, Wippen) oder Rückzugsmöglichkeiten sein. Auch spezielle Programme wie das Training emotionaler Kompetenzen (TEK) oder andere verhaltenstherapeutische Ansätze können helfen.
- Sensorische Hilfsmittel: Kopfhörer, Sonnenbrillen, weighted blankets (Gewichtsdecken) oder Knautschbälle sind Beispiele für Hilfsmittel, die helfen können, sensorische Reize zu regulieren oder überschüssige Energie abzuleiten.
- Kommunikationshilfen: Bei Menschen, die sich verbal schwer ausdrücken können, sind alternative Kommunikationsformen (z.B. Bildkarten, Tablets mit Symbolen, Gebärden) entscheidend, um Frust und damit verbundene impulsive Handlungen zu reduzieren.
- Verhaltenstherapeutische Interventionen: Eine Verhaltenstherapie kann dabei unterstützen, problematische Verhaltensmuster zu erkennen und schrittweise zu verändern. Wichtig ist, dass die Therapie individuell auf die Autismus-Symptomatik abgestimmt wird (Quellen im Bereich Psychiatrie).
- Medikamentöse Ansätze: In einigen Fällen können Medikamente zur Unterstützung der Impulskontrolle eingesetzt werden, beispielsweise wenn zusätzlich ADHS diagnostiziert wird. Hier sollten Nutzen und Risiken jedoch immer sorgfältig mit einer*m Fachärzt*in abgewogen werden.
1. Eigene Grenzen kennen und kommunizieren: Wer selbst auf dem Autismus-Spektrum ist und mit Impulskontrollproblemen zu kämpfen hat, sollte sich bewusst mit den eigenen Stressoren auseinandersetzen. Welche Situationen sind besonders belastend? Wann brauche ich Pausen? Das Wissen um diese Faktoren ermöglicht gezielte Prävention.
2. Unterstützendes Umfeld: Eltern, Geschwister, Freund*innen oder Kolleg*innen sollten informiert sein, wie sich Impulsdurchbrüche äußern können und wie sie unterstützend eingreifen können. Manchmal helfen klare Signale wie „Ich brauche eine Pause“ oder „Bitte nicht anfassen“ in akuten Situationen.
3. Stressmanagement-Methoden einüben: Ob es autogenes Training, progressive Muskelentspannung oder Achtsamkeitsübungen sind – regelmäßiges Training kann langfristig helfen, die innere Anspannung zu reduzieren und dadurch die Impulsdurchbrüche zu verringern.
4. Rückzugsmöglichkeiten schaffen: Sowohl im häuslichen Bereich als auch in der Schule oder am Arbeitsplatz kann ein sicherer Rückzugsort Gold wert sein. Wenn die Reize zu viel werden, hilft es, sich zurückzuziehen, bevor es zu impulsiven Handlungen kommt.
5. Klare Absprachen und Visualisierungen: Hilfreich kann es sein, Regeln und Erwartungen visuell darzustellen (z.B. mit Piktogrammen oder einer To-do-Liste). Das reduziert Unsicherheit und fördert die Vorhersehbarkeit.
6. Professionelle Unterstützung annehmen: Ob Therapeut*in, Selbsthilfegruppe oder Beratungsstelle – Unterstützung von außen kann helfen, neue Blickwinkel zu gewinnen, sich verstanden zu fühlen und konkrete Hilfen zu erhalten. In Deutschland bietet Autismus Deutschland e.V. Informationen zu regionalen Angeboten.
8. Wissenschaftliche Quellen und weiterführende Literatur
- S3-Leitlinie „Autismus-Spektrum-Störungen“ (AWMF): Aktuelle medizinische Leitlinie zu Diagnostik und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen in Deutschland.
- DGPPN – Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde: Bietet Fachinformationen zu psychischen Störungen, darunter auch Komorbiditäten bei ASS.
- Bundesverband Autismus Deutschland e.V.: Informationen und Anlaufstellen für Betroffene und Angehörige.
- Remschmidt, H. (Hrsg.) (2012): Autismus. Göttingen: Hogrefe Verlag. (Fachbuch mit umfassender Darstellung verschiedener Aspekte von ASS)
- Volkmar, F., Paul, R., Rogers, S., Pelphrey, K. (2014): Handbook of Autism and Pervasive Developmental Disorders. Wiley. (Englischsprachiges Standardwerk, allerdings mit vielen hilfreichen Infos zu Impulskontrolle und Verhalten bei ASS)
9. Fazit
Das Thema Impulskontrollstörung bei Autisten ist vielschichtig und lässt sich nicht auf ein simples Erklärungsmodell reduzieren. Einerseits sind neurobiologische Besonderheiten und sensorische Überempfindlichkeiten ein wichtiger Faktor, andererseits spielen Umweltbedingungen, Stress und das soziale Umfeld eine wesentliche Rolle. Das impulsive Verhalten oder die impulsiven Ausbrüche sind oft Ausdruck von Überlastung oder Not und sollten in einem ganzheitlichen Kontext betrachtet werden.
Wichtig ist, dass Betroffene und Angehörige ein tieferes Verständnis für die Zusammenhänge entwickeln und lernen, Überlastungssituationen frühzeitig zu erkennen. Mit geeigneten Strategien – sei es durch eine klare Struktur, den Einsatz von Hilfsmitteln, verhaltenstherapeutische Maßnahmen oder auch medikamentöse Unterstützung – lässt sich die Impulskontrolle verbessern. Dennoch sollte man sich bewusst machen, dass eine schnelle „Lösung“ nicht immer möglich ist. Vielmehr ist es ein Prozess, bei dem Betroffene, Familie und Fachkräfte eng zusammenarbeiten müssen.
Abschließend sei nochmals betont, dass jede Autismus-Ausprägung individuell ist. Was für den einen hilfreich ist, muss nicht zwangsläufig beim nächsten funktionieren. Daher lohnt es sich, verschiedene Ansätze auszuprobieren und die eigenen Bedürfnisse immer wieder zu reflektieren. Mit Geduld, Verständnis und passender Unterstützung können Menschen mit Autismus lernen, besser mit impulsiven Impulsen umzugehen und ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.
Ich hoffe, dieser Beitrag konnte euch einen ausführlichen Überblick über das Thema Impulskontrollstörung bei Autisten geben und bietet genug Anknüpfungspunkte für einen regen Austausch. Teilt gerne eure eigenen Erfahrungen, Fragen oder Tipps in den Kommentaren!
Viele Grüße
Euer Adminteam
Hinweis: Dieser Beitrag stellt keine professionelle medizinische Beratung dar. Bei individuellen Fragen oder akuten Problemen wendet euch bitte an Ärzt*innen oder Therapeut*innen.